Ich weiß,
die Geschichte ist etwas lang, aber es lohnt sich, ich habe mich köstlich
amüsiert...
DIE ZEIT18/2004
Umsiedlung Die
Rache der Hamster Die
Stadt Mainz will einen Gewerbepark bauen. Doch auf dem Baugelände leben
seltene Feldhamster. Sobald sie aus dem Winterschlaf erwachen, sollen
sie in eine andere Gegend gelockt werden. Das wird nicht ganz einfach diese
Geschichte beginnt mit einem Spaziergang und einem Loch. An einem Sonntag
im Frühling, es ist ein schöner Tag, der Himmel ist blau, steigt Holger
Hellwig ins Auto, um ein Stück in die Natur zu fahren. Wälder gibt es
kaum in der Gegend, und so hält er an einigen Feldern an. Die liegen noch
fast brach, im Sommer werden hier Weizen, Zuckerrüben, Kartoffeln wachsen,
es ist eine öde Landschaft, durch die er spaziert, die Erde ist nass und
saugt sich bei jedem Schritt an seinen Sohlen fest. Holger Hellwig, 33,
ist Biologe. Für gewöhnlich erfreut er sich an dicken Faltern, Maulwurfshügeln
und Hamsterbauten, darum geht er stets mit flatterndem Blick durch die
Landschaft, immer auf der Suche. Er geht über einen Acker, in dem gelbe
Pfähle stecken, sie markieren die zukünftige Baustelle eines neuen Autobahnzubringers.
Dann sieht Holger Hellwig das Loch. Das Loch ist wenige Zentimeter groß.
Ein Tennisball würde gut in die Öffnung passen. Und nicht weit entfernt
ist noch ein Loch. »Ach du Schreck«, denkt Holger Hellwig. Er eilt nach
Hause, und am nächsten Morgen informiert er sämtliche Umweltbehörden,
die ihm einfallen. Ungefähr
zwei Wochen später gehen ein paar Männer in Anzügen um eines der Löcher
herum. Die Herren murmeln, sprechen, beraten sich. Sie betrachten das
Loch. Irgendwann fahren sie wieder weg. Sie werden wiederkommen und noch
mehr Männer mitbringen. Von nun an laufen regelmäßig Menschen über das
Feld. Sie sehen besorgt aus. Manchmal auch verärgert. Vom Ende des Feldes
aus sieht man die ersten Häuser von Mainz. Mainz hat
beinahe 200000 Einwohner, eine herrliche Altstadt, den Dom, den Rhein
und das ZDF. Eine Imageanalyse hat ergeben, dass neun von zehn Mainzern
gerne hier leben. Die Menschen sprechen einen seltsamen runden Dialekt,
und sie feiern viel, selbst wenn die Dinge nicht zum Besten stehen. Mainz
hat eine der höchsten städtischen Pro-Kopf-Verschuldungen der Republik.
Im letzten Jahr hat IBM den Bau der Speicherproduktion eingestellt, die
Firma Schott-Glas hat die Produktion für Fernsehbildschirme nach Tschechien
verlegt, und das ZDF hat nach langen Streitereien mit einer Bürgerinitiative
beschlossen, seinen Medienpark doch nicht zu bauen. Seit 1991 verzeichnet
die Stadtverwaltung hohe Gewerbesteuereinbrüche, die Kleiderpauschale
für Mittellose, die Asylbewerber- und die Obdachlosenbetreuung mussten
gekürzt werden. Es gibt nur noch wenige Arbeitsplätze für die Menschen,
die bei IBM oder Schott am Fließband gearbeitet haben. Darum soll außerhalb
der Stadt auf 92 Hektar Land ein hoch moderner Gewerbepark entstehen,
hier sollen sich Handwerk, produzierendes Gewerbe, Großhandel und die
Messe ansiedeln. Wenn alles gut läuft, könnten am Ende 6000 Arbeitsplätze
geschaffen werden. An Feldhamster hat dabei niemand gedacht, an Feldhamster,
die vom Aussterben bedroht sind und deshalb schützenswert, so sehr, dass
sie einen Gewerbepark glatt verhindern könnten. 70 bis 90 Exemplare hat
Hellwig auf dem Baugrund gezählt. Der Boden um Mainz ist besonders reichhaltig,
die Lösmächtigkeiten der satten Braunerde reichen von drei bis fünfzehn
Metern. So gute Bedingungen findet ein Feldhamster selten. Wiesbaden,
nur wenige Kilometer von Mainz entfernt, hat längst nicht so gute Erde,
also kaum Hamster, dafür aber viele Kurgäste, Casinobesucher und reiche
Bankiers in großen Villen. Sowieso, sagen die Mainzer, scheine es Wiesbaden
immer besser zu gehen als ihrer eigenen Stadt. Holger Hellwig
arbeitet für den Landschaftspflegeverband Rheinhessen-Nahe und ist in
dieser Funktion einer der obersten Beschützer der Rechte des Hamsters
in Mainz. Seit die EU Ende 2001 auf einem europaweiten Kongress ihre neue
»Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie« vorgestellt und den Feldhamster auf die
Liste der besonders zu schützenden Arten gesetzt hat, gelten für den Umgang
mit dem Nagetier besondere Regeln. Manchmal sitzt Hellwig bis spät in
die Nacht an seinem Schreibtisch und arbeitet sich durch Vorschriften
und Gesetze. Tierschutz im 21.Jahrhundert ist eine komplexe Angelegenheit.
Man hat Erfahrungen mit Großtrappen und seltenen Krötenarten, die Hamsterproblematik
aber ist noch relativ neu. Bis in die siebziger Jahre galt der Feldhamster
als Ungeziefer und Fruchtschädling, der die Existenz der Bauern gefährdete,
pro abgelieferten Hamsterschwanz zahlten die Gemeinden sogar eine Belohnung.
Wenn es so etwas wie Karma gibt, ist dies die Rache der Hamster; Holger
Hellwig klappt seine Bücher zu. Er ist jung, dies wird seine erste große
Mission. Dann schickt er seine Beurteilung an den Betreiber des zukünftigen
Gewerbeparks, die Grundstücksverwaltungsgesellschaft GVG der Stadt Mainz.
Ferdinand
Graffé, der Prokurist der GVG, hat sein Büro in einem Turm neben dem Rathaus.
An der Wand hängen Dutzende von Plänen und Entwürfen zum Gewerbepark,
einige sind bunt schraffiert, andere schwarzweiß. Graffé hält in seinen
Händen die Beurteilung von Holger Hellwig. Darin steht, dass, sollte die
GVG den Gewerbepark bauen wollen, die Hamster umgesiedelt werden müssten
und ein neues Wohngebiet für die 70 bis 90 Hamster geschaffen werden muss.
Holger Hellwig empfiehlt dafür 33 Hektar, wobei empfehlen nicht das richtige
Wort ist. Es ist eher eine Anweisung. Ferdinand Graffé bekommt keine Panik.
Er ist ein besonnener Mann von 52 Jahren. Aber Land zu kaufen ist teuer,
und 33 Hektar sind eine riesige Fläche. 33000 Quadratmeter. Beinahe fünf
Fußballfelder. Er weiß nicht, wie er mit den Hamstern umgehen soll, ohne
die gesamte Investition zu gefährden. Die Mehrkosten müssen später auf
die Mietpreise umgeschlagen werden. Und überall im Umland entstehen gerade
günstige Gewerbegebiete, da muss die GVG mithalten können. Ferdinand Graffé
rechnet durch, was die Hamster kosten werden. Er kommt auf 6,8 Millionen
Euro. 76000 Euro pro Hamster. Der Bericht von Holger Hellwig macht deutlich,
dass Graffé keinen Spielraum hat. »Das Gesetz«, sagt Ferdinand Graffé,
»ist eindeutig auf der Seite der Feld-hamster.« Natürlich
gibt es eine Sitzung im Rathaus. Im Foyer sitzt ein Pförtner mit einem
freundlichen Seehundgesicht, das Gebäude, entworfen von dem dänischen
Designer Arne Jacobsen, ist düster und dunkel. Auf den Korridoren klappen
Bürotüren auf und zu, Vertreter der GVG eilen durch die holzgetäfelten
Gänge, Akten fest unter die Arme geklemmt. Dahinter Leute von den städtischen
Fachämtern für Stadtplanung, Umwelt und Recht, Mitarbeiter der Landesministerien,
Gutachter. Die Versammlung wird zu einem Informationsabend über den gemeinen
Feldhamster. Auf den Tischen liegen auf grauem Umweltschutzpapier Tierschutzvorschriften
und die Gutachten von Holger Hellwig. Ein Beamter vom Landesamt für Umweltschutz
erklärt: »Wir haben einen dienstlichen Auftrag im Rahmen der Gesetze,
und wir werden versuchen, euch zu helfen. Aber ihr könnt euch da nicht
wehren. Das ist eben dumm gelaufen, dass ausgerechnet hier eine der größten
Populationen des Landes lebt.« Die Herren starren betroffen auf die Unterlagen.
Ein Beamter ärgert sich, dass das Waldstück, das an einem Ende des Gewerbeparks
geplant war, um das Gelände ein bisschen aufzulockern, wegfallen soll;
dort ist nun Ackerland geplant, damit die Hamsterpopulation nicht in zwei
zu kleine Hälften getrennt wird: Inzucht ist auch für Hamster schlecht.
»Hier soll alles hamstergerecht werden«, schimpft der Beamte, »und wo
sollen die Mainzer zum Erholen hin?« Hellwig lässt seine Tasche aufschnappen
und präsentiert neue Untersuchungsergebnisse. Auf der zukünftigen Baustelle
leben im Schnitt 1,07 Hamster pro Hektar, im Umfeld sind es nur 0,44.
»Natürlich«, sagt ein anderer Beamter, »das ist wieder typisch für unser
Glück.«
Später finden
Bürger- und Bauernversammlungen statt. Die Bauern, deren Pachtgrund an
das Gewerbegebiet grenzt, dürfen keine Jauche mehr ausgeben und nur noch
bestimmte Fruchtsorten anpflanzen. Vor allem die älteren Landwirte verstehen
nicht, warum ihnen nun auf einmal eine Hamsterpauschale gezahlt werden
soll, pro Jahr und Hamster 51 Euro für Ernteausfall. »Auf meinen Acker
kommt kein Hamster«, ruft einer von ihnen, »ich bin doch nicht bekloppt.« Bald werden
die Hamster zum Politikum. Ferdinand Graffé bekommt viele E-Mails. »Ich
mache euch das für nur 10000 Euro«, schreibt ein Bürger. »Ich schlag die
alle tot.« (hahaha, Ein Brüller!) Ein anderer schimpft:
»Und für die Sozialhilfe habt ihr kein Geld, ja?« Ferdinand Graffé versteht,
dass sich die Leute aufregen. 6,8 Millionen Euro sind viel Geld. »Wir
sind richtige Witzfiguren geworden.« Wegen der Nagetiere verzögert sich
der Baubeginn um ein Jahr. Zu Weihnachten bekommt Graffé einen Stoffhamster
geschenkt. Wenn man auf einen Knopf drückt, spielt er Kung Fu Fighting. Holger Hellwig
erarbeitet einen Masterplan für das weitere Vorgehen, als Überschrift
schreibt er auf seinen Zettel: Feldhamsterkonzept. Für den ersten
Bauabschnitt, der im Frühsommer 2004 beginnen soll, müssen 20 Hamster
umgesiedelt werden. Hellwig sieht keine andere Möglichkeit, als die Tiere
mit Lebendfallen zu fangen und auf ihr neues Territorium zu bringen. Für
die anderen hat er sich das Prinzip »Verlockung und Vergrämung« ausgedacht:
Wenn die Hamster Ende April aus ihren Bauten steigen, sollen sie, anders
als bisher, nichts zu fressen vorfinden, nur Brachland. Darüber werden
die Hamster, hofft Hellwig, sehr überrascht sein und anderswo auf Nahrungssuche
gehen. Tatsächlich soll es dann in etwa 50 bis 70 Meter Entfernung Nahrung
von mittlerer bis guter Qualität geben, ein wenig Getreide, ein paar Rüben.
Dorthin müssen die Hamster zwangsläufig gehen. Dies nennt man »Vergrämung«.
Wieder etwas weiter weg soll besonders appetitliches Futter, Luzerne und
Weizen, wachsen – und die Hamster sollen, der Nahrung folgend, weiterziehen,
bis sie das ihnen zugedachte Gebiet erreicht haben; die »Verlockung« ist
perfekt. Obwohl Hellwig notiert: »Mit Ausfällen und unkontrollierten Fluchtbewegungen
ist in jedem Fall zu rechnen.« Holger Hellwig hat vor allem bei alteingesessenen
Tieren einen gewissen Starrsinn ausgemacht, mangelnde Flexibilität, die
sich auch auf die Bereitschaft zum Umzug auswirken könnte. So oder so
wird dieser Prozess lange dauern. »Vielleicht zwei bis drei Jahre«, schätzt
Hellwig. »Aber genau weiß man das nicht. In dem Stil hat das noch niemand
versucht.« Für Ferdinand
Graffé ist alles ein Rechenspiel. Er überlegt hin und her, wie er trotz
Tierschutz die Kosten senken kann. Schließlich einigt er sich mit dem
Landesamt für Umweltschutz darauf, dass zum Ausgleich für den Landverlust
durch die Hamster nur 16 statt 26 Hektar Land als Erholungsgebiet für
die Mainzer Bürger dazugekauft werden müssen. Die neuen Baupläne hat er
schon an seine Bürowände gepinnt. Die Kosten für die ersten 20 Hamster
belaufen sich nun nur noch auf 2,75 Millionen Euro. Darin ist der Kaufpreis
für das Land enthalten, die Feldpflege durch Bauern sowie die jährlich
anstehende Kartierung der Hamster, um bei der EU über den Zustand der
Tiere Bericht erstatten zu können. »Peanuts, im Vergleich zu den gesamten
Baukosten«, sagt er, nun Hamsterfreund mangels Alternative. »Und im Grunde
gibt es ja nie Baumaßnahmen, die am Ende ohne gewisse Mehrkosten auskommen.«
Einige Zeit
später wird im Rathaus eine neue Sitzung anberaumt. Diesmal hallen die
Schritte der Teilnehmer weniger dynamisch durch die Flure des Rathauses.
Denn es gibt neue Probleme. EU-Richtlinie und Bundesartenschutzverordnung
verfügen, dass trächtige Hamster nicht umgesiedelt werden dürfen. Und
diese Vorschrift ist ein ziemlicher Fallstrick, vielleicht weil die Abgeordneten
in Brüssel zu wenig über die Triebhaftigkeit des Feldhamsters wissen.
Feldhamster paaren sich gerne und hastig. Wenn die Tiere Ende April aus
ihren Winterbauten kriechen, werden Holger Hellwig und seine Leute maximal
zehn Tage Zeit haben, um die von der ersten Umsiedlungsphase betroffenen
Exemplare zu finden und vom Gelände zu tragen, bevor die Paarungszeit
beginnt. Man könnte die Hamster zwar auf eine mögliche Schwangerschaft
untersuchen. Dafür müsste man sie allerdings in die Hand nehmen, und dazu
wiederum benötigte man für jedes einzelne Tier eine gesonderte artenschutzrechtliche
Genehmigung. Ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt noch
größere Schwierigkeiten. Die EU verlangt, dass über das weitere Dasein
der umgesiedelten 20 Hamster aus dem ersten Bauabschnitt ein Jahr lang
Beweis geführt werden muss. Feldhamster haben allerdings eine durchschnittliche
Lebenserwartung von etwas weniger als einem Jahr, weil sie schnell Fressfeinden
zum Opfer fallen. Und um sie verfolgen zu können, muss man sie markieren.
Holger Hellwig hat sich dazu verschiedene Methoden ausgedacht. Das Bestäuben
der Hamster mit einem Farbpuder und ihre spätere regelmäßige Beobachtung
ist eine althergebrachte und mühsame, sicher aber die hamsterfreundlichste
Methode. Man könnte die Hamster zwar auch mit einem Transponder oder einem
Chip markieren. Das wäre aber nicht ungefährlich. Ein Tier könnte einen
Herzinfarkt bekommen, und auf das Töten eines Feldhamsters stehen laut
Gesetz drei bis fünf Jahre Haft, je nach Schwere des Vergehens. Ferdinand
Graffé jedenfalls ist für den Farbpuder. »Ich mag Mainz, aber ins Gefängnis
will ich nicht.« Er meint das als Witz. Auch anderen ist die Sache mit
dem Chip nicht geheuer. In der Sitzung hebt ein Beamter seine Hand. Er
sieht ehrlich besorgt aus. »Was passiert, wenn ein Raubvogel einen Hamster
mit Chip frisst?«, fragt er. »Schädigt der Chip dann den Darm des Vogels?« Derzeit schlafen
die Hamster auf dem Gelände des Gewerbeparks ihren Winterschlaf zu Ende,
nicht wissend, dass sie bald schon ein besseres, sorgenfreieres Leben
führen werden. Im Grunde sei er froh, an jenem Tag über die Hamsterlöcher
gestolpert zu sein, sagt Holger Hellwig heute, auch wenn das eine Menge
Ärger bedeutet habe. Im letzten Jahr ist Hellwig bei einer seiner Begehungen
auf ein paar Hamsterjunge gestoßen, das sei ein schönes Erlebnis gewesen,
sagt er. Gern würde sich der Biologe den Hamstern noch eingehender widmen,
das Leben des gewöhnlichen Feldhamsters ist längst nicht umfassend erforscht.
Doch die Richtlinien seien so streng, seufzt Hellwig. »Wenn man einmal
einen Hamster fängt, trifft einen gleich die volle Härte der EU. Manchmal
denke ich, irgendetwas läuft da falsch.« |
aktualsiert am 16.05.04 13:46